Die Geschichte
Der folgende Text ist entnommen aus dem Buch
Fünf Geschichten, die die Welt verändern
Einladung zu einer neuen Sicht der Welt
von: Joanna Macy und Norbert Gahbler
Junfermann Verlag, Paderborn 2008
mit freundlicher Genehmigung des Verlags
Was bedeutet es für dich, liebe Mutter,
dass dein kleiner Sohn nicht stirbt?
Es gibt keine Antwort.
Nur die Bäume legen ihr Herbstkleid an.
— Ieva Akuratere
Wir waren zu viert unterwegs, Fran, mein Mann, der fließend Russisch spricht, zwei Kollegen aus Russland und ich. In Weißrussland und der Ukraine hatten wir bereits einige Orte besucht, hatten dort Workshops angeboten für Menschen, die in den Gebieten leben, welche durch das Unglück von Tschernobyl verstrahlt sind. Nun fuhren wir zu unserem letzten Ziel, Novozybkov, einer Stadt in der Provinz Brjansk in Russland mit 50 000 Einwohnern.
Mit all den Jahren von Erfahrung in der ,Arbeit mit Verzweiflung und Ermutigung' hatte ich dazu beigetragen, ein Werkzeug zu entwickeln, das es Menschen erlaubt, Leid und Schrecken in einem geschützten Rahmen anzuschauen, eigene Empfindungen zu äußern und daraus Verbundenheit und Kraft - eben Ermutigung — zu gewinnen. Gegenüber den Behörden in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion hatten wir es „psychologische Werkzeuge zum Umgang mit der Auswirkung massiven kollektiven Traumas" genannt. Doch auch damit hatten wir uns an einem entscheidenden Punkt geirrt. Die Formulierung legt es nahe, dass es sich um eine einmalige Traumatisierung handelt, deren Auswirkung mit psychologischen Werkzeugen bearbeitet wird. Wir mussten aber von den Menschen dort lernen, dass die Katastrophe jeden Tag weiter geht. Noch immer breitet sich die Radioaktivität aus, wird durch Wind und Wasser umher getragen und lässt in der Kombination mit Industrieschadstoffen neue bisher unbekannte Giftstoffe entstehen. Gelangen diese durch die Nahrungskette in die Körper der Menschen, so treffen sie auf ein Immunsystem, das durch vorherige Bestrahlung bereits vorgeschädigt ist. Und so findet erneut Traumatisierung statt, Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Seit nunmehr über 20 Jahren.
Wenn wir Caesium 137 mit einer Halbwertzeit von 30 Jahren betrachten, so wird dessen radioaktive Strahlung im Jahr 2016 auf etwa die Hälfte abgeklungen sein, 2046 auf ein Viertel und erst 2250 auf ein Tausendstel. Ganz zu schweigen von Plutonium mit einer Halbwertzeit von 24 000 Jahren.
Harasch, ein Psychologe aus Moskau, war derjenige von uns, der darauf bestanden hatte, dass wir auch nach Novozybkov reisten. Auf der Zugfahrt von Minsk zog er eine Landkarte der Region aus seiner Tasche und erzählte uns die Geschichte dieser Stadt.
Von all den Orten in der weiteren Tschernobyl-Region, welche er bereist hatte, war es dieser, der ihn am tiefsten erschüttert hatte.
Damals, Ende April 1986, als der Reaktor Nummer 4 in Tschernobyl brannte und wie ein Vulkan radioaktive Stoffe hinausschleuderte, trugen die Winde die erste Strahlenwolke nordwestlich über Weißrussland und das Baltikum nach Skandinavien, wo bekanntermaßen zuerst Alarm geschlagen wurde. Nun drehte der Wind auf West und eine zweite Wolke zog über die Ukraine, die Tschechoslowakei bis Deutschland und weit darüber hinaus. Dann aber zog eine dritte Wolke in nordöstlicher Richtung, genau auf Moskau zu. Da entschlossen sich die Verantwortlichen der Sowjetunion, Flugzeuge aufsteigen zu lassen und die Wolke zu impfen. Silberbromid wurde in großer Höhe ausgesprüht und bald schon kondensierte der Wasserdampf aus den Wolken an diesen Partikeln, formte Regentropfen und fiel herab. Ein ungewöhnlich starker Frühlingsregen ging über den Wäldern, Feldern und Städten der Region Brjansk in Russland gerade hinter der Grenze nieder. Er brachte eine hohe Konzentration von radioaktivem Jod, Strontium, Caesium und Plutoniumteilchen mit sich. Heute ist Novozybkov die am meisten verstrahlte Stadt, die nicht evakuiert wurde. „Die Bewohner wurden nicht einmal informiert über die Entscheidung ihrer Regierung und über die Strahlenlast der Wolke. Wer will seiner Bevölkerung schon mitteilen, dass sie leider geopfert wurde? Mittlerweile ist es allgemein bekannt, dass diese Wolken geimpft wurden, aber kaum einer spricht davon", erzählte uns Harasch. „Dieses Vertuschen ist ein wichtiger Aspekt im Leid der Menschen dort."
»IN DER AULA DER SONDERSCHULE SITZEN AN DIESEM MORGEN 45 MENSCHEN aus Novozybkov, zu einem guten Teil Lehrer und Eltern, vorwiegend Frauen, in einem Stuhlkreis. Für sie ist es ein besonderer Anlass. Ihre Augen ruhen auf der sprechenden Person und wenn sie selbst das Wort ergreifen, so stehen sie auf, wie ihre Kinder es in der Schule tun. Ich erzähle etwas über die Arbeit, für die wir gekommen sind, über das Ziel dieser gemeinsamen Zeit.
Bereits an diesem ersten Tag des Workshops wird es offensichtlich, dass die Teilnehmenden absolut kein Verlangen haben, über Tschernobyl und die fortwährenden Auswirkungen der Katastrophe auf ihr Leben zu sprechen. Sie erwähnen es nur beiläufig, benutzen dafür den Ausdruck ,das Ereignis'. Schnell sprechen sie wieder von etwas anderem. Menschen in weit weniger verstrahlten Orten hatten uns ausführlich davon berichtet, welche Auswirkungen anhaltende Erschöpfung, chronische Infektionen, Krebs und Missbildungen bei Neugeborenen auf sie hatten. Hier befinden wir uns also in der am meisten verstrahlten bewohnten Stadt und niemand ist bereit, davon zu sprechen. Auch das verheiratete Paar, die wechselweise mehrfach am Tag unseren Kreis verlassen, um schnell nach ihrer kleinen Tochter im Krankenhaus zu sehen, erwähnt mit keinem Wort, wohin sie gehen.
Ich spreche von meiner Erfahrung in anderen Ländern. „Überall auf der Welt gibt es Menschen, die an Umweltschäden und -katastrophen leiden", sage ich und erwähne Bhopal und die Prince-William-Bucht in Alaska. „Wir können lernen, wie aus solchem Leid für uns, unsere Familien und unsere Gemeinden eher Stärkung als Schwäche erwächst. Wie wir dadurch unseren Willen steigern können, für die Gesundung der Welt zusammenzuarbeiten."
Yuri, unser zweiter russischer Begleiter, ein junger Arzt aus Moskau, der mit meiner Arbeit vertraut ist, hat mich die ganze Zeit ins Russische übersetzt. Fran flüstert mir in Englisch zu, was die Teilnehmenden in ihrer Sprache sagen. Schließlich sind so viele Sätze gefallen, so viele Worte gesagt, dass ich froh darum bin, eine Musik aufzulegen und die Menschen zu einem Kreistanz einzuladen.
Ich hatte vor Antritt der Reise nach einem Werkzeug gesucht, wie ich ohne Sprache und Übersetzung direkt mit den Menschen dort kommunizieren könnte und mich für den Ulmentanz entschieden, den ich kurz zuvor von meiner deutschen Freundin Hannelore gelernt hatte. Er gehört zum Zyklus der Bachblüten-Tänze von Anastasia Geng. Die Schritte sind schnell gezeigt. Das Thema des Tanzes ist die Heilung der Bäume, sein zentraler Begriff: Intention, das Ausrichten der Aufmerksamkeit auf ein Ziel. In mehreren ineinander liegenden Kreisen — alle gemeinsam in einem Kreis hätten wir nicht in den Raum gepasst — fassen wir uns bei den Händen und bewegen uns zu der Musik jeweils vier Schritte weiter, um für die nächsten vier Takte still stehend die Kraft des Himmels und der Erde und die in uns wachsende Ausrichtung zu spüren. Jedes Mal, wenn wir in der Mitte aufeinander zugehen, die Arme nach oben gehoben, erweckt das in mir das Bild einer vielblättrigen Lotusblüte — oder von Bäumen im Wind.
Und während wir tanzen kommen mir die Worte des Bürgermeisters von Novozybkov wieder in den Sinn. Bei unserer Ankunft hatte unser Team ihm einen Besuch abgestattet. „Wie freundlich von Ihnen, dass Sie hierher kommen, um die psychologische Rehabilitation zu fördern", hatte er uns begrüßt. In meinen Ohren klang es eher wie: „Mal sehen, was diese westlichen Gutmenschen hier wollen."
Wir hatten erfahren, dass Ärzte in den ersten Jahren nach der Katastrophe vom Gesundheitsministerium angewiesen worden waren, keinerlei Strahlenschädigungen anzuerkennen. Wenn also Menschen darauf bestanden, dass ihre eigenen Krankheiten, vor allem ihre Krebsleiden, die Fehlgeburten oder missgebildeten Babys etwas mit Tschernobyl zu tun hatten, so wurde ,Radiophobie` diagnostiziert, eine irrationale Angst vor Strahlung. Insofern ist der Begriff ,psychologische Rehabilitation' schon ein Fortschritt, drückte er doch aus, dass hier wenigstens auf der emotionalen Ebene die Auswirkungen der Katastrophe anerkannt werden. Trotzdem missfiel mir, dass darin das Leiden selbst als krankhaft bezeichnet wird, als etwas, das einer Rehabilitation bedarf. Für mich bedeutet dies eine weitere Herabsetzung der Opfer.
„Herr Bürgermeister", begann ich meine Antwort, „ich kann mir nicht vorstellen, dass wir vom Leiden ihrer Menschen irgendetwas wegnehmen können. Das wäre anmaßend. Aber was ich beitragen kann, ist, dass wir gemeinsam darauf sehen, wie wir mit diesem kollektiven Schicksal umgehen. Leid kann die Menschen zu neuen Stärken und großer Verbundenheit motivieren. Oder es kann sie isolieren, Konflikte hervorbringen, in denen sie sich gegeneinander wenden. Beide Wege stehen uns offen."
Der Bürgermeister atmete aus, lehnte sich zurück in seinem Stuhl und breitete die Hände auf dem Schreibtisch aus. In einer jetzt völlig veränderten Haltung sagte er: „Glauben Sie mir, es vergeht nicht ein Tag, nicht eine Begegnung in diesem Büro, in der nicht ein ungeheurer Ärger unter der Oberfläche zu spüren ist. Egal um welches Thema es sich handelt, das ist immer gegenwärtig, droht jeden Augenblick zu explodieren." Und dann, nach einer kurzen Pause, fügte er hinzu: „Wie kann ich Ihre Arbeit unterstützen?"
Diese Gruppe ist nicht einfach. Ihr Schweigen spricht Bände. Auch wenn sie es nicht äußrn, ich kann es hören: ,Darüber brauchen wir hier nicht zu reden. Dieser Albtraum begleitet uns für den Rest unseres Lebens. Wenigstens hier können wir für einige Stunden an was anderes denken. Hier können wir uns damit befassen, wie wir ein gewisses Maß an Gesundheit und Harmonie in unseren Familien erreichen können.' In diesem letzten Punkt sind sie sehr klar. Sie wollen lernen, wie sie mit verstockten Kindern umgehen können, mit mürrischen, depressiven Partnern, mit hinterhältigen Nachbarn. Harasch beugt sich zu mir herüber und flüstert: „Es ist überall das gleiche. Tschernobyl! Was im täglichen Leben daraus erwächst, sind Spannung und Streit in den Familien."
Also gehen wir darauf ein, legen den Schwerpunkt auf die Familienbeziehungen. Es wird sehr lebendig, wenn wir sie in Partnerübungen Gespräche zwischen Eltern und Kindern nachstellen lassen, wenn sie die Rollen tauschen, einander wirklich zuhören. Das weckt Erinnerungen an die eigene Kindheit und erlaubt einen offenherzigen Blick auf die Frustrationen ihrer Jugendlichen. Endlich treffen sie auf Verständnis, können eigene Schwächen eingestehen, vielleicht sich selbst verzeihen. Es fördert aber auch viele schöne Erinnerungen zu Tage. Die Ernte damals auf den Feldern mit den Großeltern, Schlittenfahrten im Winter und Ausflüge zum Angeln am Dnjepr. All das fühlt sich plötzlich so erfrischend und gesund an — als würden wir alle gemeinsam eine gute Mahlzeit zu uns nehmen. ,Was wir hier tun stärkt unser kulturelles Immunsystem`, geht es mir durch den Kopf. Radioaktive Strahlung ist ein Angriff auf die Unversehrtheit des Körpers, zerstört seine Fähigkeit zur Abwehr und Heilung. Das Gleiche bewirkt sie auch im Zwischenmenschlichen. Körperliche Erschöpfung und Gefühle von Verzweiflung führen dazu, dass Menschen in ihrer Gesellschaft das Gefühl von Sinnhaftigkeit und Kontinuität verloren geht.
Es ist Abend geworden und ehe wir auseinander gehen, fassen wir uns noch einmal bei den Händen, formen zu den nun schon vertrauten Schritten den Kreis. Eine Gitarre ist zu hören, eine Frauenstimme singt. Es ist ein lettisches Lied, von den Bäumen, dem Sehnen des Herzens. Man erzählte mir, dass hinter den Zeilen eine zweite Bedeutung liegt, geheime Wünsche nach der Befreiung von sowjetischer Besatzung, nach Durchhaltevermögen und Widerstand. Wir verstehen die Worte nicht, aber die sehnsüchtige, etwas traurige Stimme und die eingängige Melodie tragen unseren Tanz.
Einige halten ihre Augen geschlossen. Ihre Gesichter spiegeln Ruhe, es wirkt, wie wenn sie auf etwas Fernes lauschen. Vielleicht sind es Erinnerungen an ihre eigenen Volkstänze, von denen sie einmal viele kannten - damals, bevor sie ihnen verloren gingen im frühen kommunistischen Regime. Nun sind sie froh um die Gelegenheit, wieder einmal zu tanzen.
Fran und ich sind privat untergebracht und sitzen nach der Arbeit dieses Tages im Wohnzimmer unserer Gastgeber beim Tee. Sie leben im vierten Stock eines neu gebauten Betonwohnblocks. Eine Wand des Wohnzimmers ist ganz von einer Fototapete bedeckt, die eine wunderbare Waldlandschaft zeigt. Sonnenstrahlen brechen sich in den Zweigen hoch aufragender Birken und fallen auf den Boden eines mit Gras, Moos und Sträuchern bewachsenen Tals. Dieser Anblick bringt ein erfrischendes Gefühl von Weite und natürlicher Schönheit in die enge, dicht mit Möbeln zugestellte Stube. Der Vater unseres Gastgebers, Wladimir Iljitsch, Rektor der Schule, hat seinen Enkel bei sich. Er zeigt mir gerade einen großen Geigerzähler, den er in seinem Auto mit sich führt, um damit die wandernde Strahlung zu beobachten. So kann er die Kinder warnen, wo es besonders gefährlich ist, zu spielen.
Wladimir Iljitsch beobachtet meinen Blick zu der Fototapete und sagt: „Dort dürfen die Kinder nicht hingehen und auch wir nicht, auf gar keinen Fall. Bäume speichern Radioaktivität für sehr lange Zeit. Und das ist hart für uns, denn unsere Vorfahren lebten in den Wäldern und von den Wäldern, unsere Sagen und Märchen erzählen davon. Auch während der Besatzung durch die Nazis kämpften unsere Partisanen aus den Wäldern heraus. Selbst in den schweren Zeiten unter Stalin nutzten wir jede freie Zeit, um in den Wäldern zu wandern, Picknick zu machen und Pilze zu sammeln. Ja, wir waren immer schon Menschen des Waldes." Und leise wiederholt er noch einmal: „Wir sind Menschen des Waldes."
„Wladimir Iljitsch", wende ich mich mit einer Frage an ihn, „was denken Sie, wann wird es wieder möglich sein in die Wälder zu gehen?" Er lächelt müde und zuckt die Schultern. „In meinem Leben nicht mehr", und mit einem Blick auf seinen Enkel fügt er hinzu: „Und in seinem wohl auch nicht." Dann zeigt er auf die Fototapete und sagt: „Das ist jetzt unser Wald."
Am ersten Tag unserer gemeinsamen Arbeit ist kaum ein Wort zu Tschernobyl gefallen. Dann, am Nachmittag des zweiten Tages brechen Trauer, Schmerz und Verzweiflung ganz unerwartet hervor. Wir sind gerade am Ende einer geführten Meditation, in der ich die Frauen und Männer eingeladen habe, sich auf einer inneren Reise mit ihren Vorfahren zu verbinden und deren Gaben und Stärken zu ernten19. Yuri mit seiner angenehmen russischen Stimme hat sie angeleitet, in einem großen Kreis rückwärts zu schreiten und dabei rückwärtig durch die Zeit immer früheren Generationen von Ahnen zu begegnen. Dann haben sie angehalten und langsam wieder begonnen vorwärts zu gehen, fanden ihre Schritte durch die Zeitalter und sammelten die Gaben ihrer Vorfahren ein. Doch als wir 1986 erreichen, lehnen sie es ab weiterzugehen. Sie wollen einfach nicht in die Gegenwart jener Apriltage eintreten. Sie verweigern sich dem Schrecken dessen, was passiert ist. Aber diese Weigerung nötigte sie, nun doch davon zu sprechen.
Die Sätze explodieren förmlich, schleudern Erinnerungen an jenen unfassbaren Frühling hervor: der trockene, heiße Wind aus dem Südwesten, die weiße Asche, die aus einem klaren Himmel herabregnet, die Kinder, die darin umher rennen und spielen, der kühlende Regen, der plötzlich da ist, die Gerüchte, die Angst. Erinnern? Erinnern wie es war? Unser Team hat Papierbögen und Malstifte ausgebreitet, damit sie die erlangten Gaben der Ahnen zeichnen können. Aber jetzt gibt es ein wichtigeres Thema. Auf einigen der Bögen entstehen Bäume, Wälder und vor dem Wald ein großes X, Straßensperren, ,Zugang-Verboten`-Schilder.
Sie sitzen in Grüppchen zu dritt oder zu viert und jetzt reden sie. Sie erzählen sich, was sie gemalt haben und erinnern gemeinsam die Stunden, Tage, Wochen nach dem Regen. „Weißt du noch, wie ich damals zu dir kam ...", ,,... und deine Wäsche hing noch auf der Leine". Ein Bild weckt das nächste. Und das Erinnern weckt die Gefühle.
Wir kommen schließlich wieder im großen Kreis zusammen. Nun entladen sich die zurückgehaltenen Emotionen als Ärger gegen mich. „Warum haben Sie uns das angetan?" schreit eine Frau es heraus. „Wofür ist das gut? Ich wäre ja bereit, das Leid zu ertragen — wenn es sein muss alles Leid der Welt — wenn es nur irgendetwas helfen würde, meine beiden kleinen Töchter vor dem Krebs zu schützen. Wenn ich sie nur ansehe frage ich mich, ob schon Tumore in ihren kleinen Körpern wachsen. Können meine Tränen sie etwa davor schützen? Was nutzt es also, wenn ich weine?"
Von Hilflosigkeit geprägte, wütende, verworrene Sätze sind auch von anderen zu hören. Bis jetzt haben doch alle eine so gute Zeit miteinander gehabt, eine so willkommene Atempause in dem, was aus ihrem Leben geworden ist — warum habe ich all das verdorben?
Ich höre ihnen zu, fühle mich ziemlich ernüchtert und gebe mir im Stillen selbst die Schuld, weil ich nicht vorsichtiger gewesen bin. Was könnte ich hier noch sagen? Einen Vortrag über den Wert der Verzweiflungsarbeit zu halten, wäre mehr als unpassend. Als ich nach einem langen Schweigen, das auf den heftigen Ausbruch folgt, endlich die Stimme erhebe, bin ich selbst überrascht von den Worten, die aus meinem Mund kommen.
Ich spreche nicht über sie und das Leid, das Tschernobyl über die Menschen gebracht hat. Ich spreche über die Menschen im Land meiner deutschen Freundin Hannelore und ihre Landsleute.
„Ich habe nichts Kluges zu sagen, keine Weisheit, mit der ich Euren Schmerz erwidern könnte. Aber ich möchte Euch von etwas erzählen, das ich erlebt habe: Deutschland hat in zwei Weltkriegen viel Leid über Europa gebracht. Nach dem letzten Krieg, der auch ihr eigenes Land weitgehend zerstört hat, legten die Deutschen alles daran, ihren Kindern ein Leid, wie sie selbst es erlebt hatten, zu ersparen. Sie waren fleißig. Sie arbeiteten hart, um ihnen ein Leben in Sicherheit und Wohlstand zu ermöglichen. Was sie erreichten, kennen wir als ,Wirtschaftswunder`. Sie gaben ihren Kindern alles — alles bis auf eines. Sie gaben ihnen nicht ihre gebrochenen Herzen. Und das haben ihre Kinder ihnen niemals verziehen."
Am folgenden Morgen setzen wir uns nach dem Ulmentanz im Kreis und ich bin erleichtert. Es sind tatsächlich alle wiedergekommen. Niemand fehlt. Hinter uns an den Wänden hängen noch immer die Bilder, die sie zuletzt gemalt haben, auch der Weg in die Wälder, der durch ein dickes Kreuz blockiert ist. „Gestern, das war schwer", beginne ich, „wie geht es Euch heute?"
Es dauert eine Weile. Dann, zögerlich, spricht als Erste die Mutter der beiden kleinen Mädchen, die ihren Zorn so heftig geäußert hatte. „Ich habe fast nicht geschlafen. Die ganze Zeit hat es sich so angefühlt, als wenn mein Herz bricht. Als wenn es aufbricht. Mag sein, dass es noch viele Male brechen wird, ich weiß es nicht. Aber es fühlt sich irgendwie richtig an. Ich spüre, wie es mich mit allem und jedem verbindet, als ob wir alle Zweige am selben Baum sind."
Unter denen, die noch sprechen an diesem letzten Morgen, ist auch der Vater des kleinen Mädchens, der regelmäßig die Gruppe verließ, um kurz im Krankenhaus nach ihr zu schauen. Es ist das erste Mal, dass er vor der ganzen Gruppe spricht, seine Haltung ist starr, sein Gesicht ausdruckslos, wie sonst auch. „Ja, gestern, das war hart!" beginnt er. „Es war hart, den Schmerz wahrzunehmen, ihn zu spüren. Es war hart, darüber zu sprechen. Aber wie es sich heute anfühlt, das hat so etwas von sauber, zum ersten mal seit langer Zeit." Und Fran flüstert mir zu: „Das russische Wort ,chisti`, das er gebraucht, heißt ,sauber`, aber zugleich ,unverstrahlt`."
Als die Reihe an mich kommt erzähle ich, dass ich in der folgenden Woche an einer Konferenz in Salzburg teilnehmen werde, dem ,World-Uranium-Hearing` (WeltUran-Anhörung)'. Eingeborene Völker vom ganzen Erdball geben Zeugnis über ihre Erfahrungen mit nuklearer Verstrahlung. Uranbergarbeiter aus Namibia, Bewohner der Marshall-Inseln, wo 1946 überirdische amerikanische Atombombenversuche stattfanden, Kasachen, in deren Land die Sowjetunion ihre Atomwaffen getestet hat, Navajos, auf deren Stammesgebiet an über 700 Stellen Uranabbau betrieben wurde, und Schoschonen, die im Bereich des amerikanischen Nevada-Testgeländes leben. Sie und viele weitere sprechen über Krankheiten und Tod, all die Unsäglichkeiten, die durch die Spaltung der Atome in Waffen und Atomkraftwerken über sie gekommen sind.
Ich möchte, dass die Menschen hier in Novozybkov wissen, dass sie nicht allein sind mit ihrem Leid. Dass sie Teil sind in einem großen Netz von Verbindungen, von Brüdern und Schwestern, die fest entschlossen sind, ihre schmerzhaften Erfahrungen so einzusetzen, dass die Erde wieder zu einem gesünderen Ort wird. „Auf dieser Anhörung werde ich von Euch berichten. Und ich werde Eure Geschichten den Menschen in meiner Heimat erzählen und in all den anderen Ländern, in denen ich mit Menschen arbeite. Das verspreche ich Euch!"
«Dann tanzten wir zum Abschluss den Ulmentanz. Es fühlte sich gut an, noch einmal den Kreis zu formen und uns mit den getragenen, fließenden, vertrauten Schritten durch den Raum zu bewegen. Die Hände ruhend in den Händen meiner rechten und linken Nachbarn, das sanfte rhythmische Wiegen der Körper, all das ließ uns ein letztes Mal miteinander teilen, was Worte nicht zu sagen vermögen.
Ich habe mein Versprechen gegeben, weil ich sie in mein Herz geschlossen hatte. Und ich habe es gehalten. Ich spürte, welches Leid es ihnen bedeutete, dass sie sich von der Welt ringsum vergessen und im Stich gelassen fühlten. Zwar hatte die Provinzregierung große Mengen von Beton und Zement genehmigt, damit immer neue mehrstöckige Wohnblocks gebaut und die alten schönen, traditionellen Holzhäuser abgerissen werden konnten. „Holz speichert die Radioaktivität", hatte mir Wladimir Iljitsch erklärt. „Es ist schade, aber wir müssen uns von der alten Lebensform verabschieden." Aber zugleich wurden neue Atomkraftwerke im Land errichtet und Tschernobyl immer mehr zu ,dem Vorfall damals' herabgestuft. Und die Blöcke 1 bis 3, direkt angrenzend an den als ,Sarkophag` einbetonierten Katastrophenreaktor, liefen weiter, Block 3 bis zum Jahr 2000. In dem Leid, das ihr tagtägliches Leben mit sich brachte, fühlten sie sich allein gelassen. Und das wollte ich nicht akzeptieren. Darum war ich hierher gekommen und das nahm ich wieder mit von Novozybkov. Und noch etwas nahm ich mit. Der Ulmentanz hatte für mich eine andere, weitere Bedeutung bekommen.
Überwinde alle Bitterkeit
Überwinde alle Bitterkeit,
die vielleicht daher rührt,
dass du dem großen Schmerz,
der dir anvertraut wurde,
icht gewachsen warst.
Gleich der Erdmutter,
die den Schmerz der Erde
in ihrem Herzen trägt,
ist jeder von uns Teil von ihrem Herzen.
Deshalb ist jedem von uns
ein bestimmtes Maß
vom Schmerz der Erde anvertraut.
Du trägst einen Teil
von der Gesamtheit dieses Schmerzes.
Du bist berufen,
ihm in Freude zu begegnen,
nicht in Selbstmitleid.
— Sufi-Weisheit von Pir Vilayat Khan
Ich hatte eigentlich nie daran gedacht, die Geschichte der Menschen von Novozybkov mit dem Ulmentanz zu verbinden, als ich dort versprach dafür zu sorgen, dass sie nicht vergessen werden. Schon recht bald stellte ich fest, dass es mir weitaus leichter fällt, in meinen Seminaren und Workshops zu einem Tanz einzuladen und den Teilnehmenden dabei die Geschichte von den Menschen zu erzählen, die nicht mehr in ihre Wälder gehen dürfen, als zu sagen: „Ich hab da eine wirklich traurige und niederschmetternde Geschichte, die ich euch erzählen muss." Ich wusste, wie viel ihnen gerade der Ulmentanz bedeutet hatte und es fühlte sich für mich stimmig an, in London, Barcelona, München oder in San Francisco die Tanzenden aufzufordern sich vorzustellen, wie sie die Hände von Wanja und Olga, von Sascha und Marina aus Novozybkov halten, während sie im Kreis tanzen.
Der Ulmentanz erinnerte mich an die Wälder von Brjansk und daran, wie Menschen durch solch ein Unglück, solch eine Katastrophe buchstäblich von ihren Wurzeln, von ihrem Ökosystem abgeschnitten wurden. Dafür schien mir dieser Tanz, den Anastasia Geng einem Baum gewidmet hat, gerade recht. Handelt es sich bei der Ulme doch um einen Baum, welcher seit Jahrzehnten durch eine Pilzerkrankung, die seine Versorgungskanäle zerstört, auch quasi von den Wurzeln abgeschnitten ist und ausstirbt.
Die Menschen, die den Tanz — und mit ihm diese Geschichte — kennenlernten, liebten ihn. So begann der Tanz sich zu verbreiten. Die Kopie der Musik, eine Kassette, mit der Hannelore mich vor meiner Abreise ins Tschernobyl-Gebiet noch ausgestattet hatte, wurde viele Male weitergereicht und der Tanz ging von Hand zu Hand, weit über den Kreis der Menschen hinaus, die ich in meinem Leben jemals persönlich erreichen könnte. Wenn ich heute in einer neuen Gruppe die Musik anstelle, so kommt es immer öfter vor, dass Menschen mir sagen: „Ach, das kennen wir, das haben wir schon mal getanzt." Etliche in einem Kloster, andere in einer ökologischen Lebensgemeinschaft, in einer Friedensgruppe, auf einer Demo oder in einem Meditationskreis.
Manche tanzen den Ulmentanz bei Demonstrationen, Blockaden oder anderen Aktionen. Ich konnte das Video einer Gruppe sehen, die in einer gewaltfreien Aktion Rodungsmaschinen im Wald und Wasserwerfer der Polizei in die Mitte ihres Kreises genommen und den Ulmentanz getanzt haben. „Solange wir tanzten verhafteten sie uns nicht", war ihre Aussage. „Das ist zwar nicht der Grund warum wir tanzen. Wir tanzen, um uns selbst daran zu erinnern, wie wir für das Leben einstehen." Wohl hätten die Polizisten sie verhaften können, aber ein gewisser Respekt vor dem Tanz schien sie davon abzuhalten. So gelang es für eine gewisse Zeit diese schweren Maschinen anzuhalten.
Ich selbst war vor der amerikanischen Vertretung in Sydney bei einer Demonstration gegen die Bombardierung Bagdads. Da habe ich miterlebt, wie die Kameraleute der Fernsehgesellschaften bereits ihre Kameras einpackten, weil sie genug gesehen hatten. Dann begann eine größere Gruppe, ich war unter ihnen, ihre Rucksäcke und Taschen in der Mitte zusammenzulegen und direkt vor der Botschaft den Ulmentanz zu tanzen. Eine eher sanfte, nicht konfrontative Kraft ging von diesem Kreis aus, zugleich eine sehr wache und präsente Energie. Sofort waren die Kameramänner wieder da, filmten in Nahaufnahmen und krochen sogar am Boden liegend unter die Tanzenden. Immer mehr Menschen kamen hinzu, schlossen sich dem Kreis an und tanzten mit. Innerhalb kürzester Zeit erfuhren wir, dass die Nachrichten im Radio die Meldung brachten: ,Demonstranten in der Innenstadt tanzten für den Frieden'.
Letztendlich war es auch das unmittelbare Gefühl tiefer Verbundenheit während des Ulmentanzes, das Freunde in Westaustralien inspirierte, sich 1997 auf eine 55-tägige Pilgertour zu begeben, um gegen den Wiederbeginn des Uranabbaus in Australien zu protestieren. Es waren dies einige alt vertraute Gesichter aus dem Widerstand gegen Atomanlagen, die im Laufe der Jahrzehnte ein Stück ausgebrannt waren. Aber das Erlebnis, den Ulmentanz zu tanzen und die Verbundenheit mit so vielen Strahlenopfern auf der Erde zu spüren, weckte in ihnen neuen Mut. „Der Ulmentanz wird uns auf unserem Marsch tragen. Er soll unser gemeinsames stärkendes Ritual sein." Ihre Solidarität wurde ganz praktisch, sie luden mit Natalia und Andrej zwei Menschen aus Novozybkov ein mit ihnen zu kommen und auch meine deutsche Kollegin Ingeborg schloss sich ihnen an.
Sie fuhren mit einem Bus durch den roten Kontinent zu den Orten, an denen der Uranabbau wieder aufgenommen werden oder neu beginnen sollte. Hatten in den 50er und 60er Jahren noch die Engländer in Australien nach Uran für ihre Atombomben gegraben, war es das Ziel der neuen konservativen australischen Regierung, nun als eigener Staat am Atomgeschäft teilzuhaben. Wie an sehr vielen Orten mit hoher radioaktiver Strahlung auf der ganzen Erde liegen auch im 5. Kontinent die meisten Uranlagerstätten in Gebieten, die seit ewigen Zeiten von den Ureinwohnern als heilige Stätten in Ehren gehalten werden. Die Bergbauunternehmen und Regierungsvertreter verhandelten mit den Stammesführern, um an die Abbaurechte zu gelangen. Sie versprachen ihnen dafür Jobs, Schulen, Krankenhäuser ... das Übliche. Auf der anderen Seite wollten die Umweltschützer die Aborigines bewegen, ihre Rechte nicht zu verkaufen. Sie warnten vor der Strahlenbelastung.
Auch die Pilgerreisenden versuchten an mehreren Orten australische Ureinwohner dazu zu bewegen, der Bergbaugesellschaft den Uranabbau auf ihrem Land nicht zu gestatten. Sie wurden von den Ältesten der Aborigines höflich behandelt, fühlten sich aber nicht sehr ernst genommen. Bis sie — wie sie es an jedem Tag auf der Pilgerfahrt taten — gemeinsam den Ulmentanz tanzten. Da kamen die Ältesten auf sie zu und sagten ihnen, wie erstaunt sie seien, die weißen Leute etwas tanzen zu sehen, was aussieht wie heilige Tänze. Wenn die weißen Leute aber solche Tänze kennen, so wie sie selbst, dann wollten sie sie auch anhören. Und sie setzten sich mit ihnen nieder und ließen sich das Anliegen der Pilger erläutern.
In den letzten sieben Jahren hat sich durch ein Netzwerk die Idee verbreitet, an jedem Vollmond-Abend rund um die Welt jeweils um 20 Uhr Ortszeit den Ulmentanz zu tanzen. Und so geschieht es mittlerweile in wohl einigen Dutzend Ländern und hunderten von Orten. Mal sind es nur fünf Menschen auf einer Waldlichtung in Portugal, mal Hundert auf dem Münsterplatz in Freiburg oder auf dem Dorfplatz vom Ökodorf Sieben Linden. Auch dies ist eine Art, ein unsichtbares Netzwerk um die Erde zu spannen und sich zu verbinden in dem, was jemand ein ,Gebet der Füße` genannt hat.
Tatsächlich hat der Ulmentanz auch ein wenig die Form eines Gebets angenommen. Es hat sich der Brauch herausgebildet, ihn meist zweimal hintereinander zu tanzen. Beim ersten Mal tanzen wir in Stille, unser Augenmerk auf das Verbindende des Kreises gerichtet. Während der vier Takte, in denen wir uns jeweils auf der Stelle leicht kreisend bewegen, liegt die Aufmerksamkeit mehr im Inneren, auf unserer Intention. So sind wir weit über den Kreis hinaus verbunden. Beim zweiten Durchlauf rufen wir dann in die Mitte des Kreises, wem wir die Kraft, den Segen oder die Heilung wünschen. „Für die Wale", „Für Andrej", „Für den Rhein" oder „Für meine Mutter, die Krebs hat". So wird der Ulmentanz zu einem spontanen Segensgebet. Kürzlich haben Freunde von mir begonnen, noch eine Geste anzuschließen, die mir vom Buddhismus her bekannt ist. Sie ,berühren die Erde', das heißt am Ende des Tanzes knien sie nieder und legen die Stirn an die Erde, als ein Zeichen ihres Verbundenseins mit Mutter Erde und als Danksagen für diesen Tanz und die Gemeinschaft der Tanzenden.
Immer wieder konnte ich feststellen, wie reich beschenkt und verbunden sich die Menschen fühlen, wenn sie sich im Wissen um deren Geschichte mit den Opfern von Tschernobyl und anderen Wesen verbinden, die die offensichtlichen Verlierer unserer Jagd nach vermeintlichem Wohlstand sind. Und weil sie den Ulmentanz als ein Geschenk der Menschen aus Novozybkov erleben, haben sie das Bedürfnis, etwas nach Novozybkov zurückzugeben — auch wenn es in Wahrheit das Lied einer Lettischern Sängerin ist, aus dem eine in Deutschland lebende Frau einen Tanz geschaffen hat. Daraus entstand die Initiative „Geschenke für Novozybkov" (Gifts for Novozybkov)!. Eine gemeinnützige Organisation sammelt Spenden, die sie an „Viola" weiterleitet. „Viola" ist eine angesehene Umweltschutzorganisation in der Bezirkshauptstadt Brjansk, die davon Geigerzähler, also Strahlenmessgeräte kauft. Dadurch wird die Bevölkerung vor Ort in die Lage versetzt, die wandernde radioaktive Strahlung selbst zu beobachten und festzustellen, wo es jeweils am ungefährlichsten ist, Nahrung anzubauen, zu spielen oder das Wasser zu nutzen. Ludmilla Zhirana, die Vorsitzende von „Viola", berichtet davon, wie Menschen dadurch, dass sie einen eigenen Geigerzähler haben, es schaffen, eine Haltung von Gleichgültigkeit und Entmutigung zu überwinden. Sie fühlen sich nicht mehr nur hilflos ihrer Situation ausgeliefert, können endlich aktiv etwas für sich und ihre Kinder tun. Da Ludmilla selbst als Biologin Lehrer ausbildet, ist es ihr gelungen, Lehrer in Novozybkov dafür zu gewinnen, Schülern im Unterricht den Gebrauch der Geigerzähler zu zeigen. Sie messen auf dem Schulhof und auf Spielplätzen, untersuchen das angebotene Gemüse auf dem Markt oder in den Gärten. So werden manchmal die Kinder zu achtsamen Beschützern ihrer Familien.
Auch Bauern können diese Geräte zur Verfügung gestellt bekommen und in Seminaren die Benutzung und die Bedeutung der Strahlenmessung lernen. Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, wie wichtig es ist, unsere Sinne offen zu halten und die Informationen, die uns das Leben bietet, anzunehmen, selbst wenn sie unangenehm sind. Offene Systeme, die sich gegen ,Feedback` verschließen, werden schnell instabil — also krank.
Andererseits ist es in letzter Zeit vermehrt vorgekommen, dass verstrahlte und deshalb verlassene Gebäude und Felder von Menschen bezogen und wieder in Benutzung genommen wurden, die aufgrund sozialer und politischer Unruhen aus anderen Regionen Russlands, etwa Tschetschenien, geflohen waren. Nach über zwanzig Jahren kommt es zu einer Welle von Krebs-Neuerkrankungen, Schilddrüsenkrebs hat wieder deutlich zugenommen. Jungen entwickeln verstärkt Tageslicht-Allergien, so dass sie nur in abgedunkelten Räumen sein können und so manches Mädchen geht mit 13 Jahren auf den Strich, weil sie sich sagt, dass sie ohnehin früh sterben und niemals gesunde Kinder haben wird. Da ist es erfreulich, zu hören, dass die Beobachtung von Familien, die ihr Leben an der Strahlenmessung orientieren, ergeben hat, dass bei ihnen deutlich weniger Neuerkrankungen zu verzeichnen sind. Vor allem aber sind sie psychisch stärker, da sie sich nicht mehr so ausgeliefert fühlen. „Endlich kann ich selbst etwas tun." Davon berichtet Ludmilla immer wieder.
Schau ich heute, nach 15 Jahren auf den Ulmentanz, so scheint mir, dass ihm ein Zauber innewohnt, der Menschen quer über den Erdball verbindet, in ihnen ein Gefühl von Solidarität hervorbringt und sie ermutigt, ihr Herz zu öffnen. Es gibt unsägliches Leid und Schmerz in dieser Welt und manchmal scheint uns das zu überwältigen. Aber Schmerz ist zuallererst ein Warnsignal unseres Körpers und als solches will er uns etwas mitteilen. Wenn wir uns dagegen verschließen und ihn nicht wahrnehmen, so entgehen uns die Nachrichten, die in ihm enthalten sind. Dieser Tanz und seine Geschichte können uns zeigen, dass der Schmerz das Potenzial hat, uns zu verbinden, wenn wir es wagen, uns darauf einzulassen und nicht zu verschließen.
In ähnlicher Weise ist es keinesfalls krankhaft oder unangemessen, wenn wir etwas von dem Schmerz unserer Welt, unseres erweiterten Systems spüren, dass wir dafür offen bleiben und herausfinden, zu welchem Handeln uns dieses System leitet. Es mag sein, dass wir erleben, wie unser Herz bricht, so wie es die Mutter der beiden Mädchen in Novozybkov beschrieben hat. Wahrscheinlich werden wir erkennen, dass gar nicht das Herz selbst dabei bricht, sondern Schichten aufbrechen, die uns vermeintlich schützen sollten. Und dass wir, wenn wir uns dafür geöffnet haben, in einem unmittelbaren Kontakt mit der Welt und dem Leben stehen, Mitgefühl erleben, Freude und Schmerz intensiver wahrnehmen, Einsamkeit einem Gefühl von Verbundensein weicht. Und auch Lachen Einzug hält. Das jedenfalls sind die Erfahrungen, die ich seit drei Jahrzehnten immer und immer wieder in meiner Arbeit mache. Darum habe ich ihr den Namen gegeben „Arbeit, die wieder verbindet".
Der Ulmentanz und was daraus entstanden ist, ist für mich zu einer Geschichte unserer Zeit geworden. Eine segensreiche Geschichte. Für mich, für zahlreiche Menschen und für Wanja, Olga, Sascha, Marina und all die anderen aus Novozybkov.